Wenn Helvetia hungrig ist
Heute singt, wer dazu aufgelegt ist und den Text kennt, zu patriotischen Anlässen Trittst im Morgenrot daher …, bekannt als «Schweizerpsalm». Bis 1961 galt «Rufst du, mein Vaterland» als Nationalhymne. Deren Nachteil war, dass sie zur Melodie von «God save the Queen» gesungen wurde, der Hymne der britischen Monarchie, was zur kuriosen Situation führen konnte, dass bei Sportanlässen dieselbe Melodie für zwei unterschiedliche Länder gespielt wurde.
Die erste Strophe von «Rufst du, mein Vaterland» lautet:
Rufst du, mein Vaterland,
Sieh uns mit Herz und Hand
All dir geweiht.
Heil dir, Helvetia!
Hast noch der Söhne ja,
Wie sie Sankt Jakob sah,
Freudvoll zum Streit!
Nun reimt sich Helvetia nicht nur auf Söhne ja, sondern auch auf andere Wörter, was zu vielerlei Parodien Anlass gab. Die bekannteste Variante lautet:
Heil dir, Helvetia!
Bròdwurscht und Serwelaa
Cha me bim Metzger haa,
Und die sind guet! (Variante: Wohlfeil und guet!)
Zu einer Art Werbespruch von Metzgereien in Thun und Stein am Rhein wird der Liedtext durch die Mitteilung, wer solche Leckerbissen anbietet:
Heil dir, Helvetia!
Braatwürscht und Serwelaa
Cha me bim Schori haa
A der Houptgass z Thun.
Heil dir, Helvetia!
Bròdwürscht und Serwelaa
Cha men im Bäre haa
Dört sind si raa(r).
In Zürich wird gleich angegeben, wie man die Würste am liebsten isst (nämlich mit Zwiebeln):
Heil dir, Helvetia
Bradwürscht und Böle draa!
So mag man sie auch in Luzern, wo aber noch zur Vorsicht bei der Zubereitung gemahnt wird:
Heil dir, Helvetia!
Bròdwürscht und Schwèizi draa
Mèitschi, tue Wasser draa,
Suscht brönnts der aa.
Vornehmer geht es in Basel zu und her, wo eine Wurst nicht reicht:
Heil dir, Helvetia!
Kalbflaisch und Sauce draa. (Variante: Hesch no kai Kalbflaisch ghaa?)
Die Leute aus Fischenthal im Zürcher Oberland beklagen sich hingegen:
Heil dir, Helvetia!
Suppen und käi Spezi [Spezereien, d. h. Gewürze] draa.
In Bern legt man den Fokus auf die Beilage:
Heil dir, Helvetia!
Hesch no kei Rööschti ghaa?
Wart, bis i gchochet ha (Variante: Mit schööne Späckbröchli draa),
De chasch de haa.
Ob Suppe, Fleisch oder Rööschti: Offenbar wurde der 1. August schon mit Essenslust begangen, lange bevor er 1994 schweizweit arbeitsfrei wurde – wobei die Nationalwürste in den Versen mit Zwiebelsauce nicht auf dem Grill, sondern in der Bratpfanne zubereitet werden. Bekannt ist das Lied auch ennet der Grenze in Öhningen bei Stein am Rhein, wo man aber auf die typischen Nationalspeisen verzichtet und singt:
Heil dir, Helvetia!
Häscht Bohnen und Chnöpfli ghaa.
Die Spottverse zeigen, dass den Nationalsymbolen früher nicht unbedingt mehr Respekt erwiesen wurde als heute. Selbst das Vaterland ist nicht gefeit; in Sargans reimt man:
Rufst du, mein Vaterland,
Gib mer a Wurscht in d Hand
Und a Glaas Wii.
Tua mer käi Wasser drii,
Dass i mag fröhli sii.
Die Idiotikon-Redaktion wünscht allen Freundinnen und Freunden, dass sie am 1. August fröhli sii mögen, und fragt sich, ob die heutige Nationalhymne auch derart verballhornt wird…
Quellen: Schweizerisches Idiotikon IV 1175, V 561, VII 1344 und X 670 sowie Getrud Züricher, Kinderlieder der Deutschen Schweiz, Basel 1926, Nrn. 5391–5397.
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