Wortgeschichten

Vom Helsen und Würgen – oder warum man den Kuchen besser schon prophylaktisch ins Büro mitbringt

Illustration von Tizian Merletti

Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein kannte man in der Schweiz und in Südwestdeutschland den merkwürdigen Brauch, den Jubilar, die Jubilarin am Geburtstag oder Namenstag zu würgen oder jedenfalls so zu tun – jawohl, Sie haben richtig gelesen! Ist das nun wörtlich zu nehmen oder nicht? Schlägt man im Schweizerischen Idiotikon zunächst das Wort helsen, eine Ableitung von Hals, nach, scheint Letzteres zuzutreffen: Alemannisch helse bedeutet «schenken», die Helsete ist das «Geschenk», und in der 1890 verfassten Anmerkung zum Wortartikel heisst es, die Bedeutung komme daher, dass die Geschenke den Kindern ursprünglich «an den Hals gebunden» worden seien. Doch damit waren unsere lexikographischen Ahnen auf dem Holzweg.

Unter den Stichwörtern würgen und Würgete findet sich im Idiotikon nämlich weniger Schönes: «Die Kehle zugedrückt» wurde nicht nur beim Raufen und bei Schlimmerem, sondern auch «als Brauch beim Namenstag und Geburtstag, manchmal auch am Neujahrstag». Ein Beleg von 1652 beschreibt ihn drastisch: «Etlich Paurensöhn hörend, daz ihrer Mutter Geburtstag [ist]. Sie wöllend die würgen. Als sie desshalb zu ihnen ins Tänn kam, allwo sie getröschet, nimpt der ein den Pflegel, legt den ihr umb den Hals und trukt am Still und Pflegelhaupt, was er vermag, fragende, waz sie ihnen geben wölle, trukt sie, daz ihro d Zungen zum Maul aus ragete.» Ein viel jüngerer Beleg aus zivilisierteren Zeiten schwächt zwar den Vorgang ab, beschreibt aber den Zweck ebenso: «Wenn jemandem sein Namenstag ist, so kommen solche Glückwünscher und gehen unversehens auf ihn zu, umfassen ihn mit beiden Händen um den Hals und sagen: I wöisch der dänn glych nu Glück zu dym eererläbte Namestaag und wöisch, dass mer au e Würgete gäbisch – die Würgete habe, so der Einsender des Belegs, die «Meinung, dass der Gewürgte und Beglückwünschte etwas zum besten geben soll, z. B. einen Trunk». Diese von den Gratulanten erwarteten Gelage missfielen freilich der Obrigkeit; so heisst es in einem Zürcher Mandat von 1616: «Sider etlichen Jaren her ist ein böser Bruch entstanden und gar gmein [allgemein] worden, mit dem nammlich, das man uff die Tag, da einse Namen im Calender falt, welliches man die Würgeten nennt, Zächeten angerichtet, da dann die Gewürgten alles, so man verzehrt, oder doch zue dem grösten Theil desselben zalen müessen.» Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens kennt neben dem Würgen übrigens noch weitere verwandte Gratulationsbräuche wie das «Binden» (Fesseln), das Schlagen oder sonstige Maltraitierungen – alles in der Absicht, dass der Jubilar, die Jubilarin auch ja nicht vergesse, einen auszugeben.

Der Schreibende, der dieser Tage Geburtstag feiert, baut dem allem wohlweislich vor und bringt den Kuchen schon einmal prophylaktisch ins Büro – in der Hoffnung, das Gewürgt-Werden bleibe ihm damit definitiv erspart!

 

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Von fliegenden Eiern
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