Nikolaus, Christkind, Weihnachtskind, Neujahrkind, Mutti, Pelzer & Santa Claus
Jetzt zieht es wieder durch die Lande: das Chrischtchindli oder Wienechtschindli, wie es in den reformierten Teilen der westlichen Deutschschweiz aus religionspuristischen Gründen genannt wird. Oder ist es, wie uns Weihnachtsbeleuchtung und Werbung glauben machen wollen, allenfalls doch eher Santa Claus?
Will man sich über die Identität des Gabenbringers in der Schweiz informieren, lohnt es sich, einen Blick ins Schweizerische Idiotikon – das nicht nur ein Wörterbuch ist, sondern auch der Volkskunde viel Platz einräumt – und in den Atlas der schweizerischen Volkskunde zu werfen! Da erfährt man staunend, dass im 18. und 19. Jahrhundert etwa in der Stadt Zürich, in Appenzell Ausserrhoden und im Sarganserland am Heiligabend nicht das Christkind, sondern der Chlaus (St. Nikolaus) die Kinder beschenkte, und andernorts in den Kantonen Aargau, Glarus, St. Gallen und Zürich tat er dasselbe am Silvester. In der Stadt Zürich wurde das geschmückte Bäumchen vor und nach 1800 ebenfalls vom Nikolaus mitgebracht, das entsprechend Chlausbaum und nicht wie heute Chrischtbaum hiess. Auch das Mundartwort Chlaus oder Chlause mit den Bedeutungen «Weihnachts- bzw. Neujahrsgeschenk» oder überhaupt «Bescherung», welches das Idiotikon für die Kantone Appenzell, Glarus, St. Gallen und Zürich belegt, macht deutlich, dass vor noch nicht allzu langer Zeit auch in der Schweiz vielerorts der Nikolaus und nicht das Christkind als Gabenbringer tätig war. In Basel und Bern dagegen war der Bescherende weder das Weihnachtskind noch der Nikolaus, sondern das Neujahrchindli, das noch im 19. Jahrhundert auch in der Stadt Zürich mit dem Nikolaus konkurrierte. Daneben gab es zwei weitere Gestalten, nämlich da und dort im Berner Mittelland den Mutti und da und dort im Berner Oberland den Pelzer; beides deutet auf eine vermummte Gestalt hin.
Wir sehen einmal mehr, wie relativ jung unser angeblich so uraltes Brauchtum in Tat und Wahrheit sein kann und wie rasch früheres Brauchtum der Vergessenheit anheimfällt. 1895 schrieben die Redaktoren des Idiotikons in der Anmerkung zum Wort Neujahrchindli, das Beschenken an Weihnachten statt am 6. Dezember (katholisch) oder am Jahreswechsel (reformiert) sei «modern» und die Figur des Chrischtchindli «noch moderner» und «wohl der deutschen Einwanderung» zuzuschreiben. Offensichtlich hatte sich in der Schweiz der herkömmliche Gabenbringer Nikolaus auch nach der Reformation noch jahrhundertelang überkonfessionell behaupten können. Zwar versuchte die reformierte Obrigkeit, an seiner Stelle ein Neujahrskind beliebt zu machen, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Die offenbar aus dem deutschen Raum übernommene Gestalt des Christkinds (oder Weihnachtskinds) hat es jedenfalls erst im 19., in gewissen ländlichen Regionen sogar erst im 20. Jahrhundert geschafft, den Nikolaus als Gabenbringer zu verdrängen. Man darf es somit als Ironie der Kulturgeschichte bezeichnen, dass Santa Claus, ein amerikanischer Import, letztlich dazu beiträgt, den in der Schweiz ausgestorbenen weihnächtlichen Nikolausbrauch wiederzubeleben ...
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