Chilbi und Knabenschiessen
Landauf, landab finden besonders im Spätsommer und Frühherbst die Chilbenen oder Chilbinen statt – Jahrmärkte mit einem (wie man in Deutschland sagt) Rummelplatz.
Dieses Wort lässt kaum mehr erkennen, was dahintersteckt: Es ist Chilch-Wîhi, also «Kirchweihe». In fast allen Deutschschweizer Mundarten wurde das Grundwort Wîhi aber zu -wi verkürzt und das inlautende -ch- ist fast überall geschwunden, womit das Wort nun Chilwi hiess. In alten Texten ist «kilwi» verbreitet zu finden; heute hat es sich auf die Urschweiz zurückgezogen. In einem weiteren Schritt hat sich nämlich aus -lw- ein -lb- entwickelt (wie auch das schriftdeutsche «gelb» aus einen mittelhochdeutschen gelw- entstanden ist), womit wir bei «durchschnittsschweizerdeutschem» Chilbi gelandet sind.
Die eigentliche Bedeutung war «Weihe einer neuen Kirche». Gewöhnlich verstand man dann aber «jährliches Gedächtnisfest der Weihe einer Kirche (oder eines Altars)» darunter. Dieses Gedächtnisfest hat sich indes nach und nach verselbständigt, sodass die heutigen Chilbenen kaum mehr an dem Datum gefeiert werden, an dem die Kirche oder der Altar einst geweiht worden war – das Wort bedeutete je länger je mehr einfach «Jahrmarkt» und noch jünger schlicht «Rummelplatz». Bei der grössten aller Schweizer Chilbenen ist der historische Zusammenhang aber noch zu erahnen: Das Zürcher Knabenschiessen findet nicht zufällig am zweiten Septemberwochenende statt, sondern es setzt das alte Patronatsfest des Grossmünsters fort, das in vorreformatorischer Zeit Felix und Regula geweiht war – und deren Tag ist der 11. September.
Chilbenen waren schon im Mittelalter beliebt, und man besuchte gerne alle möglichen, selbst wenn sie weit entfernt waren. An die «kylby zuo Basel» am Sebastianstag 1521 «komen die von Ury, Schwitz und Lutzern mitsampt ettlichen zuogewantten by hundert manen». Dabei wurde so viel gegessen, dass ein Kritiker 1601 schrieb, die Chilbenen seien «reine Buchfest», also Bauchfeste. Das tüchtige Feiern bereitete der Obrigkeit natürlich immer wieder Sorge: 1540 ärgerte sich die Schaffhauser Synode etwa, dass «die frömbden kilchwihinen [...] mit unzüchtigem dantzen, spilen, trincken et cetera» begangen würden. Spiele und Wettkämpfe waren ebenfalls ein fester Bestandteil – darunter häufig das Armbrustschiessen. Andernorts ging es ziviler zu und her, so kannte man im Luzerner Hinterland das Chääszänne: Wer die ulkigste Grimasse schneiden konnte, bekam als Belohnung ein Stück Käse. Ein weiterer Chilbibrauch war ebenda das Chäässtäche, an dem die Teilnehmer mit verbundenen Augen mit einem Säbel auf einen Käse einstechen mussten. Um aber Mord- und Totschlag zu verhindern, wurde den Besuchern sonst befohlen, ihre Waffen zu Hause lassen; so bestimmte der Zürcher Rat 1418, «daz nieman, wer der ist, mit enkeiner wery an und uff enhein kilwi gan sol».
Zum Schluss noch einmal zum Knabenschiessen, dem heute alle Chnaabeschüüsse sagen und über das man witzelt, dass hier Knaben erschossen würden. Das kommt davon, wenn die Zürcher und Zürcherinnen nicht mehr wissen, dass dieser Anlass eigentlich richtig Chnaabeschüüsset heisst! Ein Schüüsset oder Schiesset ist ein Anlass, an dem geschossen wird. Und das Knabenschiessen, Pardon: der Knabenschiesset war einst eine vormilitärische Waffenübung der Zürcher Jugend. Versüsst wird die Teilnahme nicht erst heute mit Gaben: 1692 war der höchste Preis «ein Taler mit drei silbernen Kettemlein», und jeder Teilnehmer erhielt zumindest ein «silbernes Ringlein, dardurch ein weis und blau Dafetband als der Statt Ehrenfarb gezogen». Heute erhält der Schützenkönig oder die Schützenkönigin von der Kantonalbank 5000 Franken, und alle, die teilgenommen haben, bekommen von derselben 20 Franken plus einen Franken je geschossenen Punkt auf ihr Jugendkonto gutgeschrieben. Der Nutzen hat sich also vom Staat (schiesstüchtige Jungmannschaft) auf dessen Bank (neue Kunden) verschoben ...
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